Marseille, die bunte und wilde Stadt am Meer – eine Stadt die vielleicht am wenigsten typisch französisch ist. Und doch hat sie Charme und wir fühlen uns schnell wohl hier. Das liegt aber auch daran, dass wir bei Matthieu und Lilas (sprich „Lila“) wohnen – Matt haben wir vor 10 Jahren während des Auslandssemesters in Dublin kennengelernt, Lilas ist seine Freundin und beide sind erst vor wenigen Monaten in die gemeinsame Altbauwohnung nahe dem Zentrum von Marseille gezogen. Wir haben auch hier ein eigenes Zimmer für uns mit einem sehr bequemen Bett und wir fühlen uns eher als Teil der WG wie als Gäste, so haben wir’s gerne 😊! Lilas ist seit kurzem arbeitslos und möchte diese Zeit nun nutzen, um sich selbständig zu machen. Die 12-Stunden-Arbeitstage in Paris, wo sie die letzten 10 Jahre gelebt hat, haben sie immer weniger glücklich gemacht und nachdem ihr Vater schwer erkrankt ist und wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben hat, hat sie realisiert, dass das Leben endlich ist und dass „jetzt, nicht morgen“ die richtige Zeit ist, das zu tun, was ihr Herz ihr sagt 😊.

Demnach hat Lilas Zeit und sie ist motiviert uns Marseille zu zeigen – so ziehen wir am Tag nach unserer Ankunft zu dritt los, um die Stadt zu erkunden. Wir spazieren den Boulevard hinab zum Hafen und genießen es sehr, wieder am Meer zu sein! Wir steigen hoch zur „Saint Victor“-Kirche, die mit ihren dicken, beige-rosa-farbenen Steinmauern seit dem 14. Jhd. wenig prunkvoll, aber mit viel Atmosphäre, hier steht. Weiter geht es noch viele Stufen und Höhenmeter hinauf zur „Notre Dame de la Garde“ mit der von weithin sichtbaren goldenen Figur der Mutter Maria und dem Jesuskind – die Marseiller lieben und verehren diese Kirche. Besonders ist hier auch, dass im Inneren der Kirche an langen Fäden Miniatur-Schiffe aufgehängt sind – wie einfache Mobile –, die der Kirche in früheren Zeiten von Seefahrern aus Dank geschenkt wurden, nachdem diese Stürme und Krankheiten auf See überstanden hatten. Von dem Plateau hier oben genießen wir den 360° Rundumblick über die Stadt, das Meer und die schroffe Felslandschaft im Hinterland. Von hier sehen wir, dass es so gut wie keine Parks oder Grünlandschaften gibt in der Stadt, die fast eine Million Einwohner beherbergt. Aber die Strände zum Baden und die Calanques (schroffe Küsten-Felslandschaft) zum Wandern sind nicht weit. Lilas führt uns weiter entlang der ausgedehnten Hafenpromenade, vor der die vielen Privatboote der Stadtbewohner vor Anker liegen. Vereinzelt treffen wir auf Straßenmusiker und wir kommen vorbei an einer langen Reihe von Weihnachtsständen, wo ausschließlich die hier typischen Krippenfiguren verkauft werden, etwas eintönig. Künstliche, weiße Plastik-Christbäume stehen daneben, die Möwen kreisen über uns, es ist warm und das Bild der Weihnachtsmärkte am Hafen wirkt schräg. Wir kommen zu den modernen Museen, von deren Architektur uns Lilas begeistert erzählt und über versteckte Verbindungswege gelangen wir in die Altstadt von Marseille. In einem Auf-und-Ab ziehen sich schmale Gasse entlang niedriger Häuserfluchten. Viele Handwerks- und Künstler-Läden würden zum Verweilen und Schmökern einladen, doch es wird schon dunkel, die Füße werden müde und wir machen uns langsam auf den Heimweg. Viel Leben zeigt sich entlang der Boulevards: Menschen aus aller Herren Länder flanieren oder sitzen gemütlich in einem der Außenbereiche der vielen unterschiedlichen Lokale. Dieser Kulturmix prägt das bunte Straßenbild, aber auch Graffitis, der chaotische Verkehr – „wenn du hier fahren kannst, kannst du überall fahren“ erklärt uns Lilas – und die allgegenwärtigen schönen großen Möwen, die über die Stadt und durch die Straßen ziehen und uns stets darin erinnern, dass wir am Meer sind.

Das Besondere an Marseille ist, dass man innerhalb kürzester Zeit an traumhafte Buchten kommt (Matt fährt mit dem Rad 10 Minuten zu seinem Lieblingsstrand am Meer) und in den nahegelegenen Calanques, in die einen öffentliche Busse bringen, klettern und wandern gehen kann. Wir entscheiden uns für einen Ausflug in die Calanques – eine geschützte, viele Kilometer weit-reichende Küstenfelslandschaft, die sich auf unzähligen unterschiedlichen Pfaden zu Fuß erkunden lässt. Wir lassen uns treiben, sehen wo die Wege – die von kleinwüchsigen Kiefern, Buschwerk und blühendem Rosmarin gesäumt sind – uns hinführen und wir genießen die Natur und die Ruhe hier draußen. Jegliche Form von Stadt und Lärm scheint unendlich weit weg und wir wollen gar nicht mehr so recht weg von hier. Erst als die Sonne langsam am Horizont verschwindet, machen wir uns auf den Rückweg. Es ist der 1. Dezember, der Tag vor unserer Abreise mit dem Kreuzfahrtschiff und wir nehmen innerlich Abschied von Europa.

Ein letztes gemeinsames Abendessen – wie an all den Abenden typisch französisch, begleitet von Brot, Wein und Käse. Alles schmeckt hervorragend hier und wir genießen insbesondere das Brot noch einmal speziell – außerhalb von Europa werden wir nur selten fündig bei gutem Brot 😊

Dieser letzte Abend war auch durch die andauernden Proteste in Frankreich gegen ein neues Gesetz zur Anhebung der Sprit-Preise geprägt. An Samstag geht es immer besonders zu auf den Straßen größerer Städte, erzählen uns Matt & Lilas. Und auch wir hören an diesem Samstag-Abend 2 laute Knaller, vermutlich von platzenden Reifen eines brennenden Autos, und sehen beim Blick aus dem Fenster in der Straße ums Eck Rauchschwaden und orange-gedämpfes Licht – am nächsten Morgen erfahren wir, dass ein Polizeiauto angezündet wurde. An vielen Ecken der Stadt sehen wir am nächsten Tag bei unserem Weg zum Schiff noch Verwüstungen vom Vorabend. Wir fühlen mit Lilas, die besonders emotional auf die nur auf Zerstörung ausgerichteten Aktionen reagiert und einfach nicht verstehen kann wie Menschen dazu kommen ihre Heimat zu zerstören! Denn eins ist klar, Aggression und Gewalt können und werden nie zu einer Verbesserung der Situation führen.

…und dann suchen wir uns Samstagabend noch die Reiseunterlagen für die Schifffahrt zusammen, um uns gemeinsam mit Lilas & Matt anzusehen, wo wir morgen genau hinmüssen für unser Boarding. Hoppla, da lesen wir, dass wir spätestens 7 Tage vor Antritt der Reise online einchecken müssen, um unsere Tickets zu erhalten! Schnell drehen wir den Laptop auf und klicken uns durchs Online-Check-In, an dessen Beginn wir gleich darauf hingewiesen werden, dass der 29.11. – der Tag, bevor das Schiff von Savona aus die Kreuzfahrt startet – die letzte Deadline für das Check-in ist. Wir füllen trotzdem alles aus und an dem Punkt, an dem am Schluss die Tickets geniert werden sollten, kommt eine Fehlermeldung, dass keine Tickets verfügbar sind. Das Einzige, das wir aufrufen können, ist ein Boarding-Formular, in dem sogar schon unsere Kabinen-Nummer angedruckt steht, aber keine Tickets! Es ist Samstagabend, die Hotline der Kreuzfahrtgesellschaft und die unserer Reiseagentur sind erst ab Montag wieder erreichbar – und wir werden etwas nervös…

Wir beobachten, was in unseren Köpfen nun alles so vor sich geht und wir freuen uns dass wir – nach einer „F***, wie blöd sind wir eigentlich, das nicht ordentlich zu lesen!?“ und „Oh nein, was machen wir jetzt, wenn wir nicht aufs Schiff kommen-Panik!“-Phase, ziemlich schnell an den Punkt kommen zu erkennen, dass erstens, noch gar nichts passiert ist (wieder einmal lösen die aufkommenden Sorgen schon vorab schlechte Gefühle in uns aus) und wir zweitens, im schlimmsten Fall, nur Geld verloren haben und eben eine unmittelbar über-den-Haufen-zu-werfende weitere Reiseplanung, sprich: Unsere Erwartungshaltung zum weiteren Reiseverlauf tritt nicht ein.

Aber: Ist die Grundlage dieser Reise und überhaupt unserer derzeitigen Ausrichtung nicht genau das, dass wir uns von eigenen Erwartungshaltungen und deren anderer lösen möchten? Dass wir uns in den Fluss des Lebens begeben, in dem nie etwas gut oder schlecht ist, sondern immer gut ist, wie es ist? Wahre Freiheit ist die aufrichtige innere Haltung, dass alles passieren darf was passiert, alles so sein darf wie es ist und nichts mehr zu erwarten. …zusammengefasst also eine Lebensaufgabe 😉 und wir sind auf dem Weg! Schön, dass uns das Leben immer wieder zum Üben einlädt –  wir waren überrascht, dass wir doch recht schnell wieder loslassen konnten, ob der Möglichkeit, eventuell doch einen anderen (Reise)Weg einschlagen zu „müssen“.

…und nachdem diese Zeit in Marseille nun schon ein paar Tage zurückliegt, ein kleiner Spoiler: Wir tippen gerade aus unserer gemütlichen leicht-schunkelnden Kabine auf Deck 2, die ganz unvorhergesehener Weise auch ein Fenster und Platz für eine Yogamatte hat – es kann doch richtig schön sein, sich vom Leben überraschen zu lassen! 😉

Alles Liebe von uns!

PS.: Und wieder einmal ein technischer Hinweis am Ende 😊: Offensichtlich landen unsere Mails zur Benachrichtigung bei einem neuen Blogeintrag häufig im „Spamverdacht“ – bitte schaut einmal dort nach, ob unsere Mails vielleicht dort hinverschwunden sind!